Claus Runners - Holger fuer Claus zum 80. Geburtstag
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Einer flog über den Teufelsberg

Holgers Rede für Claus zu dessen 80. Geburtstag
27.5.2025 - Mommsenstadion

Der Trainer und Läufer Claus Wilutzky hat vier Leben. Jetzt wird er 80. Über einen Meister der Langstrecke, bestimmt von Stunden, Minuten, Sekunden und Kilometern. Dabei stets die Gewissheit: Nach der Kurve kommt die Gerade und irgendwann die Zielgerade.



PROLOG:

Läufer haben zwei Leben. Mindestens. Vielleicht auch drei. Manche sogar vier, aber dazu später. Es gibt ein Leben vor dem Laufen. Es gibt das Leben seit dem Einstieg in den Laufsport. Und es gibt das Leben, wenn Laufen nicht mehr geht. Das ist das Schwierigste, wenn der Lauf-Junkie ohne Droge durch den Tag kommen muss.

HAUPTTEIL:

West-Berlin in den frühen 1980erJahren. Heute würde man sagen: das gute alte West-Berlin. Die Stadt hat keine Sperrstunde und immer Durst. Im Wirtshaus Wuppke in der Schlüterstraße 21 in Charlottenburg, bekannt für seine fantastische Zwiebelsuppe, sitzt am frühen Abend ein Gast: Claus Wilutzky. Der Mann vom Bau hat den ganzen Tag geplant und gerechnet. Er ist Ingenieur für Statik von Beruf und treibt auch nach Feierabend noch Tragwerks-Formeln durch sein Gehirn. Steht das Bauwerk, braucht es doch noch eine unterstützende, eine sichernde Stahlkonstruktion oder geht es auch ohne zwei zusätzliche Träger? Der Kopf raucht, Wilutzky raucht, vor ihm steht ein frisch gezapftes Bier. Aah, das tut gut. Sein Bierdeckel ist zu diesem Zeitpunkt noch unschuldig.

Am Ende auch dieses Tages wird Wilutzky 60 Zigaretten geraucht haben. Mindestens. Marke HB. Der Werbeslogan des Tabakherstellers hat in dieser Zeit Kultstatus: "Wer wird denn gleich in die Luft gehen? Greife lieber zur HB!" Wilutzky tut sein Bestes: Er raucht lieber HB. Laufschuhe? Nein, die müssen für andere Menschen bestimmt sein. Sein Fitnesszustand entspricht in dieser Zeit vielleicht dem, wie ihn sehr viele Jahre später einmal der übergewichtige Bundesumweltminister Peter Altmaier für sich so beschrieben hat: "Ich bin fit wie ein Turnschuh, aber zurzeit außer Form."

Das ist das erste Leben des Claus Wilutzky, bevor er anfängt, Läufer zu werden. Wie hatte die tschechische Marathonikone Emil Zatopek gesagt? "Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft." Zatopek hat auch noch bemerkt: "Wenn Du ein neues Leben kennenlernen willst, dann trainiere für einen Marathon."

Wilutzky leert den Aschenbecher und beginnt ein neues Leben. Sein zweites Leben. Wenn, dann macht er es richtig. So wie er geraucht hat, so wird er auch laufen. No limit, keine Grenzen. Er mag, wie alle, die es vom Jogger zum Läufer geschafft haben, die Grenzverschiebung. Weil der Läufer weiß, was der Jogger nicht weiß: Er kann das Tempo variieren. Der Marathon-Himmel hat seine Tore weit geöffnet. Am besten jede Woche eine neue persönliche Bestzeit, jedes Training wird zum Wettkampf, einfach wunderbar, wenn nachher alles weh tut. Dann fühlt sich der Läufer erst so richtig wohl.

Wilutzky trainiert im Sportclub Charlottenburg, kurz SCC, bei Heinz Uth, einem in Läuferkreisen anerkannten, aber auch ebenso berüchtigten Verschleißtrainer. Er lässt seine Athleten Kilometer schrubben bis die Schuhsohlen rauchen oder die Achillessehne streikt. Nach einem 30 oder 32 Kilometer Lauf im von anfänglich fünf Minuten auf 4:30 Minuten und schließlich vier Minuten pro Kilometer gesteigerten Tempo geht es danach selbstverständlich nicht direkt zum Duschen ins Mommsenstadion, sondern noch drei Mal über den Teufelsberg. Nur einer flog über den Teufelsberg. Claus Wilutzky.

Die Muskulatur macht dicht, die Sehnen schmerzen, die Gelenke protestieren, aber Wilutzky und seine Mitstreiter machen, was Trainer Uth von ihnen will: Laufen, laufen, laufen. Und danach: wieder laufen. Nebenbei gehen alle noch einer irgendwie geregelten Erwerbsarbeit nach. Claus Wilutzky kommt so in der Spitze auf bis zu 230 Kilometer wöchentlich. Wann hat der Mann eigentlich noch geschlafen? Die Uth-Truppe hat viele Sportverletzte. Manche laufen sich regelrecht kaputt. Auch Wilutzky ist häufig verletzt. Uth tröstet in der ihm eigenen Art: „Du darfst verletzt sein, aber vorher musst Du Leistung bringen“, erinnert sich Wilutzky. Heute würde der Volksmund lapidar sagen: "Nur die Harten kommen in den Garten." Uth hat ihm einmal gesagt: "Du musst es bis zur Kotzgrenze schaffen." Wilutzky läuft und kotzt. Beweis erbracht, Leistungsgrenze erreicht.

Einmal tritt Wilutzky in einem Fünf-Kilometer-Rennen unter anderem gegen den großen Peter Greif an, dessen Methode der sogenannten Endbeschleunigung auf den letzten Kilometern eines langen Trainingslaufes Vorbild für viele Laufgruppen im Land wird. Es kommt zum Fotofinish zwischen Greif und Wilutzky. Claus Wilutzky läuft neue persönliche Bestzeit: 16:59 Minuten. Es reicht trotzdem nicht. Greif ist mit 16:58 Minuten eine Schuhspitzensekunde vorne. Trainer Uth gratuliert seinem Athleten nicht. Mehr noch: Er ist stinksauer. Denn in Uths Welt hat sein Athlet verloren.

Doch Wilutzky ist wetterfest und winterhart. Seine Bestzeiten purzeln. 34:08 Minuten für die zehn Kilometer, 1:14:39 Stunden braucht er für den Halbmarathon, 2:36:51 Stunden für die 42,2 Kilometer auf der Marathondistanz. Es kommen noch 8:41:24 Stunden für die 100 Kilometer-Strecke dazu. Und weil das Läuferherz noch mehr will, läuft Wilutzky 24 Stunden ohne Pause auf einer stupiden 2,5 Kilometerrunde so viele Kilometer wie Körper, Beine, Geist und Wille hergeben: 226,5 Kilometer in 24 Stunden ohne Schlaf. Es fehlen 600 Meter, dann hätte er in seiner damaligen Altersklasse, der M60, den Europarekord geknackt. Mensch, Claus, hätte doch irgendjemand an der Strecke Dir zugerufen: "Quäl' Dich, Du Sau!" Dieser Claus Wilutzky sagt über sich selbst: "Talentiert war ich überhaupt nicht. Ich war fleißig, ich war ein Arbeitstier." Was müsste derselbe Mensch heute als Trainer da über das Talent jener Läuferinnen und Läufer sagen, mit denen er heute sein allseits beliebtes Lauf-ABC macht ("...jetzt Anfersen, dann Kniehebellauf..."), denen er Rundenzeiten zuruft und für die er Trainingspläne schreibt? Wirklich alle nur Amateure, die sich nicht richtig quälen wollen?

Aber so denkt Trainer Wilutzky nicht. Claus ist ein Trainer, bei dem es menschelt. "Der Claus" wird am 26. Mai 1945, 18 Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, im sächsischen Wildschütz bei Torgau geboren. Sein Vater, Jahrgang 1911, ist Chirurg und operiert in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges deutsche Soldaten auf der Krim und im Donbass, heute ja wieder ein Schauplatz von Krieg. Seine Mutter, Jahrgang 1916, eine Kinderbuchautorin, war vor dem Fall von Berlin an die Alliierten aufs Land nach Wildschütz/Torgau geflüchtet, wird später Vorsitzende des Berliner Schriftstellerverbandes. Die Jahre nach dem Krieg sind Jahre der Entbehrung. Erst 1949 kehrt sein Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück.

Vielleicht auch deshalb sagt Wilutzky über Sport und Leistungssport: "Für mich kommt zuerst der Mensch, das Wichtigste ist die Gesundheit." Auch deswegen mögen und schätzen ihn seine Leute, seine Gruppe. "Ihr seid mir das Wichtigste", sagt er manchmal. Natürlich kommt zuerst sein Sohn Kolja, mit dem er in eingespielter Wohngemeinschaft lebt und telefoniert, und der inzwischen ebenfalls dem Ausdauersport verfallen ist. Doch dann kommt "die Gruppe". Sie ist für ihn Lebenselexier, Lebensquell, Lebensinhalt. Sie heißen, wie könnte es anders sein: Claus-Runner. Alle sind seine Lieblingsläufer. Einfach eben "die Gruppe", für ihn durch nichts zu ersetzen. So wie auch beste Orthopäden und Chirurgen seine Achillessehne nicht ersetzen konnten, die ihm 2008 nach einer heftigen, bereits chronischen Entzündung gerissen war. Vorher war er noch als 59-Jähriger den Berlin-Marathon in unter drei Stunden gelaufen: Zwei Stunden, 59 Minuten und acht Sekunden. Seither läuft er eben mit nur noch einer Achillessehne durchs Leben und schafft dabei im Alter von 79 Jahren die fünf Kilometer in 32:30 Minuten. Aber bitte, so ist das eben, wenn man kein Talent zum Laufen hat. Er lebt mittlerweile sein drittes Leben. Als Trainer, Betreuer, Ratgeber, Vaterfigur, Zeitnehmer, Gepäckaufbewahrer und Sommerfestveranstalter.

Wilutzky wird ab 2001 zum Kopf einer noch sehr kleinen Laufgruppe. Mit und neben ihm sammeln anfangs nur Michael Schatz, Daniel Rusch und Matthias Fuchs Kilometer, eine verschworene Einheit bis heute. Die Gruppe wächst langsam, einige weitere Talentfreie wie der nicht bekannte Autor dieser Geschichte schließen sich an. Neben gegenseitiger persönlicher Sympathie schweißt eine informelle Losung die Mitglieder dieser Trainingsbande zusammen: Alle laufen den Marathon unter drei Stunden. In den Anfangsjahren war der Wilutzky-Trupp noch eine lokale oder regionale Angelegenheit. Berlin und ein wenig Westdeutschland, wie man im alten Berlin traditionell den Rest der Republik nennt. Heute trainiert Wilutzky Läuferinnen und Läufer aus einem Dutzend Ländern und von drei Kontinenten. Spanien, Italien, Niederlande, Schweiz, österreich, Polen, Türkei, Äthiopien, Eritrea, Algerien, Kamerun, USA, Russland, Ukraine. Die Welt ist ein Dorf oder auch ein Laufcamp. Hauptquartier: das Mommsenstadion am Grunewald.

Wilutzky ist auch hier gewissermaßen der Statiker, der er in seinem Beruf war. Seine letzte (Be-)Rechnung auf einer Baustelle war das 15 Meter hohe Matrosendenkmal im Hafen der Hansestadt Rostock. Unser Statiker schlüpfte hinein in den Matrosen und inspizierte den linken Unterarm auf seine Tragfestigkeit. Wer das Militärhistorische Museum in Dresden, das Jüdische Museum in Berlin und erst recht das Bundeskanzleramt mitgeplant und berechnet hat, der schafft es auch, eine höchst heterogene Laufgruppe von mittlerweile 103 Mitgliedern einigermaßen in Balance zu halten. Sehr zugespitzt könnte man sagen: Ohne Wilutzkys Werk würde keine Bundeskanzlerin und kein Bundeskanzler an jenem Ort und in jenem Bau regieren, wo sie ihr Büro haben. Aber Vorsicht, Vorsicht....

Wilutzky, der harte Hund, den er sich von seinem Trainer Heinz Uth abgeguckt hat, kann auch autoritär. An ganz rigorosen Abenden sagt er dann schon mal, bevor es zu Tempodauerläufen auf den "Krone" genannten Kronprinzessinnenweg im Grunewald geht: "Vorsicht, Vorsicht." Mögen alle ihr richtiges Tempo wählen. Und durchhalten.

LETZTE RUNDE:

Vorsicht, Vorsicht also. Jede und jeder hört auf sein Kommando. Dann laufen alle los. Oder sollte man besser sagen: Sie rennen los, als gäbe es kein Morgen. Vorsicht, Vorsicht, haben sie längst schon wieder vergessen. Claus schwingt sich aufs Fahrrad und fährt nebenher, während sich die Gruppe in mindestens fünf Untergruppen aufteilt. Vorsicht, Vorsicht, wollte man auch Wilutzky zurufen. Mach’ langsamer. Denn: Claus wird 80! Acht Jahrzehnte Leben, davon vier Jahrzehnte in und mit Laufschuhen. In 80 Tagen um die Welt. Claus Wilutzky wird auch das schaffen. In seinem vierten Leben als Läufer. Glückwunsch zum 80, lieber Claus!!!

(© Holger Möhle)